Literaturnobelpreis 1910: Paul Johann Ludwig von Heyse

Literaturnobelpreis 1910: Paul Johann Ludwig von Heyse
Literaturnobelpreis 1910: Paul Johann Ludwig von Heyse
 
Der Deutsche erhielt den Nobelpreis für sein »vollendetes und von idealer Auffassung geprägtes Künstlertum als Lyriker, Dramatiker, Romanschriftsteller und Dichter von Novellen«.
 
 
Paul Johann Ludwig von (seit 1910) Heyse, * Berlin 15. 3. 1830, ✝ München 2. 4. 1914; 1847-51 Studium der klassischen Philologie, Romanistik und Kunstgeschichte in Berlin und Bonn, 1852 Studienreise nach Italien, ab 1854 als Hofdichter am bayerischen Königshof in München; gilt als Kopf des »Münchner Dichterkreises«.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Die Verleihungsrede anlässlich des Nobelpreises für Literatur 1910 betont vor allem die gesellschaftliche Stellung des Preisträgers: »Der ehrwürdige Greis ist Gegenstand allgemeiner Verehrung, Ehrenbürger der Stadt München, wo eine Straße seinen Namen trägt; er wurde mit hohen Auszeichnungen nur so überschüttet.« Aber für diejenigen, die den Preis als Anerkennung zeitgenössischer Literatur sahen, war diese Verleihung an Heyse ein Affront gegen die moderne Literatur, hatte er doch den Höhepunkt seines Erfolgs als Autor längst überschritten. Der Autor hingegen, der aus Krankheitsgründen nicht in Stockholm anwesend sein konnte, nahm die Auszeichnung mit Gelassenheit zur Kenntnis: »Natürlich befriedigt es, wenn man sein Lebenswerk gekrönt sieht. Nicht ohne Stolz darf man also sagen: »Was ich getan habe, kann doch nicht allzu schlecht sein.««
 
 Der Höfling
 
Heyse wuchs im klassischen bildungsbürgerlichen Milieu auf: Sein Elternhaus — der Vater war Professor für klassische Philologie in Berlin — sowie das spätere Studium vermittelten ihm jenes Wissen und jene Selbstsicherheit, ohne die sein Erfolg als Schriftsteller kaum zu verstehen ist. Es lag für Heyse daher durchaus nahe, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und eine akademische Karriere zu verfolgen.
 
Doch ehe er Pläne dieser Art umsetzen konnte, erreichte ihn 1854 völlig überraschend die Einladung des bayrischen Königs Maximilian II., als Titularprofessor und Hofdichter nach München zu kommen. Heyses Aufgabe bestand darin, bei Hofe anwesend zu sein und dem König als literarischer Berater zur Seite zu stehen. Daneben hatte er alle Freiheiten, sich dem Schreiben zuzuwenden. Als Mitbegründer der Münchener literarischen Gesellschaft Krokodil fand Heyse das ihm angemessene Wirkungsfeld.
 
Man orientierte sich hier an den Klassikern der Weltliteratur und pflegte dabei, wie ein Teilnehmer es ausdrückte, »die Formreinheit, die Vorliebe für den hohen Stil«. Nach dem Tod Maximilians 1864 und unter seinem Nachfolger Ludwig II. lockerten sich die Verbindungen zum Hof. Heyse wurde nun als erfolgreicher Schriftsteller zum glanzvollen Mittelpunkt des literarischen Lebens in München. Er wirkte durch seine umfangreiche Korrespondenz über den engeren Kreis Münchens hinaus, so etwa im Briefwechsel mit Franz Grillparzer, Friedrich Hebbel, Eduard Mörike, Gottfried Keller und Iwan Sergejewitsch Turgenjew.
 
 Der Bildungsbürger
 
Doch täte man Heyse unrecht, wollte man in ihm nur den gefälligen Fürstendiener am Münchener Hof sehen. Trotz dieser Stellung hat er seine sehr bürgerliche Prägung nie verleugnet. So verzichtete er 1868 auf seine Pension aus Protest gegen die Entlassung des befreundeten Schriftstellers Emanuel Geibel aus Hofdiensten. Geibel hatte sich gegen König Ludwig II. allzu kritisch geäußert. Zudem machte er aus seiner Abneigung gegen die preußische Großmannssucht unter Wilhelm II. nie einen Hehl. Doch trotz seiner im Ganzen liberalen und toleranten Lebenseinstellung war Heyse ein zutiefst unpolitischer Mensch. Er sah sich den unverrückbaren, ewigen Werten verpflichtet und war damit letztlich ein Vertreter jener »machtgeschützten Innerlichkeit«, mit der Thomas Mann später den Rückzug des Bürgertums in die Welt von Kunst und Literatur charakterisierte. Im kurzen Gedicht »Aktualität« betrachtet er das tagespolitische Geschehen aus dem Blickwinkel der langen Traditionen und des Ewiggleichen: »Siehst du den stürmischen Wechsel der Zeiten,/ Magst du im Stillen dich daran halten:/ Die dringendsten Angelegenheiten/ Sind die Jahrtausendealten.«
 
 Der Novellenschreiber
 
Im Bewusstsein der in- und ausländischen Zeitgenossen war Heyse vor allem als Verfasser von Novellen präsent. »Alle zwei Jahr ein Kind, alle Jahr ein Drama, alle halb Jahr eine Novelle« bemerkte spöttisch der Berliner Freund Theodor Fontane und traf damit durchaus ins Schwarze. Im Laufe seines langen Lebens verfasste Heyse mehr als 150 Novellen. Seine erste Novellensammlung erschien 1855 in München. Den Hintergrund der hier versammelten Stücke bildet die Geschichte und Landschaft Italiens. Schon während seines Aufenthalts dort hat Heyse erste Entwürfe hierzu angefertigt. Im Eingangsstück »L'Arrabiata« liefert die klassische Landschaft Süditaliens die Kulisse der Handlung. Schon lange liebt der junge Fährmann Antonio Laurella, die titelgebende »Widerspenstige«. Während einer gemeinsamen Überfahrt nach Capri, kommt es zur Katastrophe: Die Geliebte wiedersetzt sich dem heftigen Werben Antonios und beißt ihn in die Hand. Doch mit dieser Verletzung beginnt zugleich auch ihre »Zähmung«: Als sie später reumütig seine Hand verbindet, gesteht sie ihm ihre lang unterdrückte Liebe. Formal gesehen bietet diese Novelle das Grundmuster, an dem sich alle weiteren Novellen Heyses orientieren. Mit Blick auf eine der Novellen Giovanni Boccaccios führt er den Begriff des »Falken« ein, der für die unerwartete Wendung der Handlung steht: »Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereignis, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache.« Heyse vermochte das Schema des »Falken« virtuos zu handhaben, entging jedoch nicht immer der Gefahr des Handwerklichen und Schematischen.
 
 Der Vergessene
 
Schon wenige Jahre nach seinem Tod ist der einst so Erfolgreiche von Kritik und Publikum fast vollständig vergessen. Mit dem Ersten Weltkrieg ging die bürgerliche Epoche unter, der Heyse seinen Erfolg als Schriftsteller verdankte und die ihn in seinen weltanschaulichen und ästhetischen Grundhaltungen wesentlich geprägt hatte. Die Wertungen, die nach seinem Tod einsetzten, betonten vor allem das Oberflächliche und Technische seines Schreibens. Der Fall vom »vielgeliebten Glückskind bürgerlicher Dichterträume« (Gunter E. Grimm) zum oberflächlichen Handwerker der Literatur war tief und, trotz späterer Rehabilitierungsversuche, endgültig. Die Wirkung Heyses sollte auf seine eigene Lebenszeit beschränktbleiben.
 
S. Siemer

Universal-Lexikon. 2012.

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